Lehm und Gesundheit

Erweiterte Lebensräume

Der Mediziner Dr. Walter Hugentobler hat aus seinen Beobachtungen zu Erkältungswellen in trockener Winterluft und im Flugzeug Schlüsse gezogen und kann so heute vertiefte Einblicke in die Welt der Microbiome geben.

Und der Lehm findet dort wie selbstverständlich einen guten Platz!

Hansjakob Eggenberger führte, inspiriert durch die vorangehenden Anlässe in Zürich und Berlin, ein Interview mit ihm, das einen anderen Blick auf unbekannte Gefährten in uns und in unserer räumlichen Umgebung zulässt.

Telefon-Interview mit Dr. Walter J. Hugentobler (WH) von Hansjakob Eggenberger (HE), geführt am 6. Juni 2020

HE    Herr Dr. Hugentobler, sie sind Doktor der Medizin und seit ihrer Pensionierung als Berater bei der Firma Condair, Pfäffikon SZ, tätig.
WH    Ja, zudem begeistere ich mich für Low-Tech Lösungen im Gebäudebereich, wie beispielsweise mein Artikel zum Bürogebäude 2226 in Lustenau (A) aufzeigt.


HE    Inwiefern sind die Oberflächen der gebauten Umwelt am Zustand unseres Immunsystems beteiligt?
WH    Mikroben wie Bakterien, Viren und Pilze sind in der Umwelt, sowie als Bestandteil des menschlichen Körpers, allgegenwärtig. Die Gesamtheit der menschlichen Mikroben, das menschliche Mikrobiom, ist in ständigem Austausch mit dem Mikrobiom der Umwelt. Da sich die allermeisten Menschen heute zu ca. 90 % in Innenräumen aufhalten, hat der Austausch mit dem «Gebäude-Mikrobiom» einen bedeutenden Anteil an der Entwicklung unseres Immunsystems. Die Beschaffenheit der Materialoberfläche ist ein wichtiger Faktor für die Entstehung eines Mikroklimas. Je nach Mikroklima etablieren sich unterschiedliche Mikrobiome, welche sich mit dem menschlichen Mikrobiom austauschen.


HE    In ihrem Beitrag «Gesundheitliche Aspekte von Gebäudetechnik und Architektur» aus dem Jahr 2019 nutzen sie mehrmals den Begriff eines «kompetenten Immunsystems». Was verstehen sie darunter?
WH    Mit dem Begriff «kompetent» wird unterstrichen, dass das Immunsystem sich ständig auch weiterentwickelt. Ein kompetentes Immunsystem ist in der Lage, in den menschlichen Organismus eindringende Mikroben, aber auch Allergene oder giftige Stoffe zu erkennen und soweit nötig zu reagieren.
    Diese Kompetenz erarbeitet sich das Immunsystem durch Kontakt mit Mikroben, Allergenen und den toxischen Stoffen der Umwelt. Der Austausch erfolgt über die Atemluft, die Nahrung und Hautkontakte.


HE    Ein starkes oder eben kompetentes Immunsystem ist der beste Schutz vor Krankheiten. Worin besteht unser Immunsystem?
WH    Einerseits besteht das Immunsystem aus einem vererbten Teil, andererseits aus einem erworbenen Teil. Der erworbene Teil entwickelt sich vor allem in den ersten 2 Lebensjahren durch Kontakt und Austausch mit dem Mikrobiom der Umwelt. Der Aufenthalt in der freien Natur ist dabei entscheidend.
Das menschliche Mikrobiom spielt eine zentrale Rolle für das Immunsystem. In erster Linie die Mikroben der oberen Atemwege, des Verdauungstraktes sowie jene der Haut. Wir alle atmet pro Tag ca. 18'000 Liter Luft. Diese Luft enthält unabhängig von der Umgebung, d.h. im Büro ebenso wie in der Natur rund 500'000 Mikroben, v.a. Bakterien und etwa gleich viele Viren sowie Milliarden von anderen Schwebestoffen, unter anderem auch Allergene. Unsere Atemwege sind im Austausch mit diesen Mikroben, nehmen sie «zur Kenntnis» und stufen sie als harmlos ein oder erkennen sie z.B. als Pollen, auf welche die betreffende Person allergisch ist. Unsere Atemwege sind immunologisch sehr aktiv.


HE    Sie streichen in ihren Ausführungen heraus, dass nach Betrachtung der Mikrobenwelt mit gengestützten Methoden sich ein neues Hygieneverständnis aufdrängt. Können sie dieses neue Hygieneverständnis mit einigen Sätzen skizzieren?
WH    Das noch gängige Hygieneverständnis betrachtet Mikroben als Gegner. Der sprachliche Umgang mit ihnen ist der Kriegsrhetorik entliehen. Ich erinnere an Begriffe wie «Krieg gegen Viren», «Abtöten von Mikroben» oder «invasive Keime». Hygiene im Sinne von Keimfreiheit ist beispielsweise in einem Operationssaal angebracht. In einem Patientenzimmer, Wohnungen, Büros und Arbeitsplätzen sollte ein natürlicher, ausgeglichener Mikrobenmix angestrebt werden. Mikroben, welche die Menschen bereits seit Jahrtausenden begleiten, werden Kommensalen oder schlicht «god old friends» genannt. Sie sind die besten Verbündeten gegen krankmachende Mikroorganismen. Es sind erst sehr wenige Mikroben erforscht, viele davon sind krankmachende Keime. Die weit überwiegende Mehrheit der Mikroben ist für uns und die Natur nützlich, ja unentbehrlich.
Das neue Hygieneverständnis sollte daher vor allem die gesunderhaltenden Mikroben erforschen und fördern, das heisst eine Umgebung schaffen, in der sie überleben können und nicht permanentem Stress ausgesetzt sind. In unseren Gebäuden sind die Mikroben beispielsweise dem permanenten Stress der Trockenheit (Wassermangel auf künstlichen Oberflächen) und Nährstoffmangel auf supersauberen, glatten Kunststoffen, Glas oder Stahl ausgesetzt.
In diesem Zusammenhang soll das Gebäude als Ökosystem wahrgenommen werden. Es gelten dabei dieselben Grundregeln wie für Ökosysteme generell. Massgebend für ein stabiles und gesundes Ökosystem sind folgende drei Faktoren: 1. (Mikro)Klima, 2. Ressourcen und 3. Diversität.
    Durch den Einsatz von geschlossenen Kunstmaterialien wie Glas, Metall und Kunststoff fehlt den Mikroben auf diesen Unterlagen, was sie zum längerfristigen Überleben brauchen: Wasser und Nährstoffe. Die allermeisten Naturmaterialien bieten diesbezüglich ideale Kulturbedingungen. Deshalb sollten, sofern nutzungstechnisch möglich, Naturmaterialien verbaut werden.


HE    Es gibt Bakterien zu kaufen, welche vielseitig einsetzbar sind und positiven Einfluss versprechen. Wie beurteilen sie diese Entwicklung?
WH    Der Einbezug guter Mikroben in die Kultivierung eines neuen Hygieneverständnisses wird ein langer Prozess. Nicht nur deshalb sind probiotische Produkte vom Ansatz her richtig.

Beispielsweise wurden in Spitälern positive Ergebnisse mit dem Einsatz in Reinigungsmitteln erzielt.
Bei der Behandlung schwerere, wiederholter Darmentzündungen, ausgelöst durch einen gestörten Mikrobenmix im Darm, kann eine Heilung erreicht werden indem das ganze Mikrobiom des Darmes ausgetauscht wird.


HE    Betrachten sie es als sinnvoll, einen Lehmputz beim Anmischen mit «guten» Bakterien zu impfen? Oder hat es normalerweise im Lehm bereit ein günstiges Mikrobiom?
WH    Grundsätzlich sind in Lehm bereits Mikroben vorhanden. Zudem werden Oberflächen in wenigen Tagen von Mikroben aus der Umwelt besiedelt, insbesondere von Menschen und Tieren. Hierzu bietet der Lehm ideale Voraussetzungen durch seine Struktur und Sorptionseigenschaften. Wasser besteht bereits aus 2 der 6 essentiellen Ressourcen für Mikroben. Dieses muss in flüssiger Form vorhanden sein. Mikroben können kein Wasser aus feuchter Luft extrahieren. Die weiteren 4 Ressourcen (Kohlenstoff, Stickstoff, Phosphat und Nitrat) sind auf nicht supersauberen Oberflächen in der Regel in genügendem Mass vorhanden («aus unserer Sicht der Dreck oder Hausstaub»).


HE    Welche weiteren Verhaltensweisen und Massnahmen würden sie als förderlich hinsichtlich eines ausgeglichenen Mikrobioms resp. eines kompetenten Immunsystems empfehlen?
WH    Haustiere, insbesondere Hunde, beeinflussen uns auch auf mikrobieller Ebene in der Regel (ausgenommen Allergiker) sehr positiv. Dasselbe gilt für den Aufenthalt und die Betätigung in der freien Natur.


HE    Welche Rolle spielt die Luftfeuchtigkeit und die Temperatur in Bezug auf die Mikrobenwelt?
WH    Bei einer Aussentemperatur von 20 – 24 Grad beträgt die Luftfeuchtigkeit im Freien natürlicherweise ca. 60 %. Wenn wir im Winter diesen Temperaturbereich mit Heizen erreichen beträgt die relative Luftfeuchtigkeit im Gebäude noch 20 – 40 %. Das entspricht einem Klima wie in der Sahara und bedeutet für Menschen mit nicht perfekt funktonierenden Atemwegen, das heisst alle Senioren, Allergiker und alle mit wiederkehrenden Infekten im Hals-Nasen-Ohrenbereich, eine vorprogrammierte Katastrophe.

Baunormen empfehlen als Untergrenze in der Regel den Feuchtewert 30 %, in den USA sogar 20 %. Der ideale Bereich aus ärztlicher Sicht ist jedoch 40 – 60 % relative Luftfeuchtigkeit. In diesem mittleren Feuchtebereich werden Viren, die Atemwegsinfektionen auslösen, bei der Übertragung über die Raumluft rasch inaktiviert. Bei Feuchten unterhalb 40 % bleiben sie jedoch lange infektiös.

Condair unterstütz die Petition von Dr. Stephanie Taylor von der Harvard Medical School. Sie verlangt von der WHO Leitlinien zur Mindestluftfeuchtigkeit in öffentlichen und gewerblichen Gebäuden aufzustellen (https://40to60rh.com/de/).

Anfang Juni ist ein Forschungsprojekt angelaufen, welches die Inaktivierung von Grippeviren bei mittlerer Feuchte untersucht. Involviert sind die Technischen Hochschulen Zürich und Lausanne und das Unispital Zürich


HE    Welche Oberflächen würden sie in einer privaten Küche für Rüstarbeiten empfehlen?
WH    Fleisch enthält häufig krankmachende Keime. Diesem Umstand sollte durch eine strikte Trennung der Schneidunterlage Rechnung getragen werden. Grundsätzlich ist für die kalte Küche ein separates Küchenbrett zu verwenden.
HE    Herr Dr. Hugentobler, besten Dank, dass sie sich Zeit für dieses Interview genommen haben.

 


Think Earth! Ausstellung

Innerhalb der Ausstellung Think Earth! an der ETH Zürich im November 2017 entstand ein Videobeitrag zum Thema, der die Vorzüge des Lehm für das Inneraumklima unterstreicht.

THINK Earth! Filme

auf vimeo

 

In vier Kurzdokumentarfilmen kommen Akteure des Bauens mit Lehm heute in der Schweiz zu Wort. Bauherren, Planer, Architekten und Lehmbauer erläutern die Hintergründe zu aktuellen Lehmbauprojekten unter den Gesichtspunkten von Gesundheit, Ressourcennutzung, Gebäudetechnik und gesellschaftlicher Bedeutung.

THINK Earth! Film "Lehm und Gesundheit"

Ein gesundes Raumklima hängt meistens von der Luftqualität und der Luftfeuchtigkeit ab. Für beide ist Lehm ein interessantes Material, da Lehm die Schadstoffe in der Luft sind absorbieren kann. Der Lehm wirkt wie ein Filter und hilft die Luft zu säubern. Mit dem Einsatz von unbelastetem Lehm beim Bauen bringt man keine zusätzlichen Schadstoffe in den Innenraum und verzichtet auf eventuell gesundheitsschädigende Stoffe die oft im Pützen oder Anstrichfarben erhalten sind. Ausserdem kann Lehm die Feuchtigkeit regulieren, das heisst bei zu viel Feuchtigkeit diese absorbieren und bei Trockenheit wieder freigeben. Die Luft bleibt bei angenehmen circa 50% relativer Feuchtigkeit.

Die Schule Allenmoos in der Stadt Zürich wurde mit Lehmputz verkleidet, was sich positiv auf das Raumklima und das Wohlbefinden der Kinder auswirkt. Der Architekt Roger Boltshauser hat mit dem Lehmbauausführer Martin Rauch zusammengearbeitet um die einzigartige Bauweise zu entwickeln. Der Pavillon ist eine hybride Konstruktion mit Teilen in Stampflehm, Lehmpützen und Lehmböden. Die Materialeigenschaften von Lehm eignen sich gut für eine Schulnutzung: Feuchtigkeit der Raumluft wird regulieret und Gerüche absorbiert. Lehm verleiht dem Gebäude einen spielerischen Charakter und lädt Kinder ein auch auf dem Boden zu spielen.

Auch im Stadtspital Triemli in Zürich wurde Lehmputz verwendet für die Decken der Patientenzimmer. Die Konstruktionsweise besteht aus einer 40cm dicken Betondecke, darunter ist ein Kühl- und Heizungssystem mit wasserführenden Leitungen montiert und mit 2 bis 5cm Lehmputz aufgespritzt. Ralph Künzler, der die Lehmarbeitsausführung geleitet hat, erklärt uns wie Lehm auch hier für seine hohe Feuchtigkeitsaufnahmefähigkeit und Absorption von Geruchstoffen verwendet würde. Lehm kann zusätzlich eventuell anfallende Kondensation aufnehmen, die sich bei einem integrierten Kühl- und Heizungssystem bilden kann und besonders in Spitalräumen nicht erwünscht ist.


Bericht zur Think Earth! Ausstellung

Zusammenarbeit vom Lehrstuhl für Nachhaltiges Bauen und der IG Lehm


LowTech Symposium | Natural Building Lab | TU Berlin

Im Rahmen der Think Earth! Podiumsdiskussion tauschten sich verschiedenste Fachleute zum Thema "Lehm und Gesundheit" aus. Wie kann Lehm und Lehmputz effizient und auf natürliche Weise die Luftfeuchtigkeit regulieren und gleichzeitig den Komfort im Innenraum steigern?

Andrea Klinge (ZRS Architekten, Berlin), Prof. Eike Roswag (TU Berlin / ZRS Architekten, Berlin), Dr. Walter Hugentobler (Hausarzt im Ruhestand, Zürich), Ralph Künzler (Baubiologie und Lehmbau, Winterthur). Moderation: Prof. Adrian Altenburger (SIA Schweiz / HSLU, Luzern)

 

Leider ist die Video-Aufzeichnung der Vorträge und Podiumsdiskussion nicht online verfügbar. Aber auf der LowTech Symposium des Natural Building Lab an der TU Berlin konnten Andrea Klinge und Walter Hugentobler ähnliche Positionen darlegen.